jahrestag heißt auch, viel mehr geschichten, viel mehr bilder, viel mehr präsenz der ermordeten, der geiseln, der überlebenden, der freigelassenen und der angehörigen. die angewohnheit, morgens nach dem aufwachen instagram durchzugehen macht heute, dass ich lange nicht aufstehen kann/will und dann die vorgenommenen ideen reduziere, es aber zu beit ariela schaffe und damit arbeit und struktur das erste mal seit gefühlt ewig und die feststellung, wie gut mir das tut. davor und danach den platz der geiseln betrachten und feststellen, dass er sich verändert hat. das schien mir am 7. oktober schon so, aber nun wird klar, das er wirklich verlassen ist, größer wirkt, mehr auf tatsächliche veranstaltungen ausgerichtet ist. installationen sind verschoben worden, um freie flächen zu schaffen, andere sind ganz verschwunden. den abend bei o. verbringen und der spricht über nichts anderes als diese geschichte. ich bin überrascht, wie sehr er sich damit beschäftigt, das heißt, wie viele interviews und wie viele dokumentationen er gesehen hat. wir wissen beide nicht, wie die überlebenden mit ihren geschichten in zukunft überleben sollen, aber wir können auch nicht aufhören, darüber zu sprechen. als er das kind ins bett bringt, sehe ich im fernsehen ein interview mit rachel und jon goldberg-polin, das erste mal, dass ich sie höre seit der beerdigung ihres sohnes hersh. es geht um die bedingungen, unter denen er und die anderen fünf von hamas getöteten geiseln die letzten monate ihres lebens verbringen mussten, dass er nur noch 53 kg wog, welche kugeln ihn wo getroffen haben und wie sich daraus der ablauf seiner ermordung rekonstruieren lässt. rachel goldberg spricht von dem willen, alle details und seien sie noch so grausam, wissen zu wollen. sie beide reden über die bisherige unmöglichkeit, in eine zukunft zu denken oder zu leben. dass es oft nur darum geht, durch die nächste halbe stunde zu kommen, was es mit sich bringt, dass ihr sohn zu einem symbol geworden ist, den so viele menschen so sehr und so intensiv betrauern; wie hart es also ist, wenn menschen bei ihrem anblick und ohne sie persönlich zu kennen, in tränen ausbrechen. wenn man zu einem trigger für den verlust von fremden wird, sagt rachel goldberg und macht zugleich klar, wo die grenzen der empathie ist, wenn sie übergriffig wird. sie macht, dass ich wieder weine, aber sie macht auch, dass ich wieder einen rahmen herstellen kann, bezugspunkte für mein denken habe.
Yarden Bibas ist heute 35 jahre alt geworden. es ist sein zweiter geburtstag in der gewalt der hamas.
gestern abend dagegen mit einer gruppe von menschen in einer bar getroffen. fast alleiniges thema waren die raketen. die tatsächlichen aus dem iran, dem libanon und aus gaza, und auch die, die noch kommen könnten wahrscheinlich. was weiß man schon, wenn man sich anguckt, wie sich gerade der raum, den hizbollah beschiesst, massiv ausgeweitet hat. es ging immer wieder auch darum, wer wann wo war und wer was zu wem wie gesagt hat, also darum, das eigene erleben darzustellen und manchmal auch darum, sich als jemand zu profilieren, der gar keine angst hat und sogar segeln ging, obwohl auch immer wieder raketen im meer landen, nur das halt ohne alarm und iron dome. zugleich sind zumindest wir an dem tisch uns einig darüber, dass die anschläge und dabei besonders der in yaffa letzte woche, uns nervöser machen, als die raketen. vielleicht und nur im geheimen beginnt man dem israelischen abwehrsystem ein bisschen zu vertrauen. nicht so viel, dass man im bett liegen bleiben würde, aber doch so sehr, dass man versucht, sich nicht völlig irre zu machen. aber auch darum ging es immer wieder, die nachbar:innen mit denen man im bunker ist und die ausflippen vor angst, etwas, das gesteigert wird, weil man in bunkern oft (oder immer?) keinen empfang hat, spricht, nicht nur seine angehörigen und/oder freund:innen nicht erreicht, sondern vor allem nicht weiß, was da draussen vor sich geht. darüber hinaus versuchen wir uns zu orientieren, was genau alles in der zeit seit dem letzten treffen passiert ist, weil das ist so viel und manchmal grundlegend, dass kaum einer den überblick hat oder es als chronologie nachzeichnen kann. es gibt überraschend viele emotionen dafür, dass wir uns als gruppe ebenso wie im einzelnen nur wenig und selten kennen. alle sprechen wahnsinnig laut und durcheinander und niemand lässt irgendjemanden ausreden und mir beginnt der kopf irgendwann zu schmerzen und ich muss irgendwann nach hause gehen und dabei goatcheese-eis essen.
aber alles bleibt schwer mit dem vertrauen: gestern fuhr ein 36-jähriger araber aus Umm al-Fahm mit einem moped durch Hadera und stach an vier verschiedenen plätzen auf seine opfer ein. sechs menschen, darunter ein teenager wurden zum teil schwer verletzt. auch gestern schickte hisbollah allein auf Kiryat Shmona 20 raketen. dabei wurden Dvir Sharvit (43) und Revital Yehud (45) sowie ihre drei hunde von herabfallenden fragmenten so getötet. in haifa und seiner umgebung wurden mehreren menschen ebenfalls durch raketenteile verletzt. ich merke, dass ich nicht mehr weiß, wie viele soldaten bereits gefallen sind, aber ich weiß doch, dass ihre zahl hoch ist und sie schnell steigt, die polizei und shin bet haben fünf arabische israelis in taybeh festgenommen, die als isis-anhänger (sagt man das so?) einen anschlag in tel aviv verüben wollten. in weiteren teilen von nordisrael mussten die einwohner:innen ihren wohnungen und häsuer verlassen, da sie zu geschlossenen militärischen zonen werden. in Arab al-Aramshe aber zum beispiel sollen sich rund 1.400 menschen weigern, sich zu evakuieren. es gibt so viel alarm über den tag verteilt, dass ich schon kaum noch auf die orte gucke, darum wissend, dass wenn es mich tatsächlich betrifft, ja noch mal ein spezieller alarm kommt. mir ist heute endlich aufgefallen, warum die stadt so dunkel ist: nicht nur, dass sehr viele läden einfach leer sind und nicht beleuchtet werden, auch genutzte geschäfte verzichten darauf, nachdem sie abends schließen.
seit einigen tagen ist das Cafe Otef in florentin nun der ort für meinen morgendlichen oder mittaglichen kaffee. es ist ein bisschen zu weit weg von meiner wohnung, um aus dem besuch ein tägliches ritual zu machen. aber weil es von menschen aus den kibbutzim der otef aza, der gaza envelope gegründet wurde, die das hamas-massaker am 7. oktober überlebten und ihre häuser verlassen mussten, ist mir das egal. das cafe soll ihnen einkommen und beschäftigung, aber vor allem auch gemeinsamen raum ermöglichen; ich glaube es gibt einige und vielleicht nicht wenige, die sich sorgen machen, dass die strukturen endgültig zerbrechen, dass das gefühl einer gemeinschaft nicht wieder herzustellen und/oder aufrecht zu erhalten ist. vor einigen tagen sind mi. und ich zufällig in einem neubaukomplex gelandet, in dem viele überlebende aus re’im wohnungen zur verfügung gestellt wurden; etwas, das ich nur weiß, weil ein wachmann uns darauf aufmerksam machte und deshalb vielleicht auch ein bisschen zum gehen aufforderte. ein erste café war in sarona eröffnet worden, das zweite, das vor allem mit dem kibbutz Re’im verbunden ist, nun vor kurzem hier in florentin. fünf weitere sollen folgen, so dass es am ende für jeden der sieben kibbutzim, die besonders hart getroffen wurden an diesem tag, ein solches café gibt. verkauft werden auch produkte, die mit diesen orten verbunden sind, darunter unter anderem Dvir Chocolates; konfekt, das Dvir Karp entwickelt hat, der in Re’im lebte und am 7. oktober ermordet wurde. seine frau stellt es nun nach seinen rezepten weiter her.
das bewusststein für die dinge, die mir gleich sehr fehlen werden und für die, die ich nicht mehr machen kann bis nächste woche, steigt rasant. und ich muss ein bisschen darauf achten, mich nicht tatsächlich zu verachten, dafür zu verachten, für viele dinge keinen alltag hergestellt zu haben. für einen steten besuch der bibliothek zum beispiel, oder für das essen von hummus.