20231221

weihnachten hat für mich schon so lange ich mich erinnern kann etwas beklemmendes, feindliches. einige jahre habe ich versucht, aktiv dagegen anzugehen und wir haben in der wg ein essen veranstaltet und all die menschen eingeladen, die irgendwie auch gestrandet und mehr oder weniger verloren waren. wir haben sehr aufwendig essen gekocht, uns gestritten und am ende waren alle betrunken. ich habe es geliebt. heute abend hat mich der post von frau fragmente daran erinnert, dass menschen diese zeit als zeit und länger als einen abend wirklich geniessen können. und ich dachte, wie schön das ist und wie fremd für mich. und zugleich ist das alles gerade sowieso so weit weg, dass ich ein bisschen irritiert beim lesen ihres textes war. es erschien mir verrückt, dass das auch eine realität sein kann.

ed. hat mich heute in tel aviv besucht. wir sind mit der neu eröffneten light rail erst nach petah tikva gefahren, dann von petah tikva nach bat yam. zwischen beiden endstationen sind es 51 minuten. wenn man in tel aviv einsteigt, dann sind das wahnsinnig beindruckende, futuristische, großzügige stationen im untergrund und alles ist ein bisschen aufregend. wenn man an den jeweiligen endstationen aussteigt, ist man im irgendwo mit schmalen bahnsteigen, zwischen befahrenen straßen und kann sich nicht einmal einen kaffee kaufen.

kurz nach 1 (!!) gibt es alarm. wir hatten gerade die grenze zwischen yaffa und bat yam überfahren, die straßenbahn hält, die menschen laufen zu sheltern oder um sich anderweitig in sicherheit zu bringen. es ist wahnsinnig laut und wir können den waggon nicht verlassen. weil ed. ein bisschen zu alt ist, um überhaupt zu rennen und weil ed. auch zu cool ist, um beunruhigt zu sein. also bleiben wir sitzen, entfernen uns nur etwas von den scheiben, was vermutlich keinen unterschied machen würden, wenn es einen treffer gibt. aber irgendetwas will man vermutlich einfach gemacht haben. ich siehe wie der iron dome die raketen abwehrt. dann ist es still, zeit vergeht, die meisten kommen zurück und wir fahren weiter.

wir sprechen nicht noch einmal darüber und werden in den nächsten stunden immer wieder sagen, was für einen phantastisch schönen tag wir hatten. nur ich bin nach unserem essen in yaffa plötzlich todmüde.

es scheint nicht gut zu laufen mit verhandlungen um weitere freilassungen von geiseln, die verzweiflung wird immer größer. man denkt immer, dass sie doch schon so groß und schmerzhaft ist, und dann wird sie immer noch größer. jeden tag. und es gibt immer weniger worte dafür.

20231220

als ich im frühjahr in tel aviv gewohnt habe, kurz nach dem anschlag, bei dem ein autofahrer in der nähe des strandes in eine gruppe von menschen fuhr und dabei einen italienischen touristen tötete, schrieb an. mir ‘bist du in jerusalem’ in einer nachricht. und meine antwort war ‘fuck, gab es einen anschlag?’. gab es nicht, sie wollte nur wissen, ob ich in jerusalem bin. daran muss ich immer wieder denken, wenn ich versuche jemandem zu erzählen, wie es sich anfühlen kann, hier zu sein.

mitarbeiter:innen-meeting gehabt, hummus gegessen, zu beit ariela zum arbeiten gegangen, am antrag geschrieben. beim rausgehen über den platz für die geiseln gelaufen und von einem der psychologischen betreuer:innen angesprochen worden. wie immer keine lust gehabt, über mein sosein in der welt zu sprechen. noch weniger als sonst und schon gar nicht mit einem fremden und nach einem protokoll vorgegebener fragen (und ohne schnaps). aber zum ersten mal fragt mich jemand, wie er für mich eigentlich war, dieser ‘7. oktober und das bringt mich dann doch kurz durcheinander.

zu suzanne dellal gegangen, um “Fresco dance company – Yoram Karmi | TATRY By Mor Shani” zu sehen. danach vor glück und intensität ein bisschen high gewesen.

die straßen sind immer so leer und es ist immer ein bisschen verführerisch, das erst einmal schön zu finden.

20231219

zum arbeiten ins cafe um die ecke meiner wohnung gegangen. tisch im inneren bekommen, salat bestellt, kaffee, rezension zu einem buch über die zerstörung von synagogen nach 1945 in deutschland angefangen, alarm im telefon angezeigt, gedacht: ‘ach, süd tel aviv und yaffa’. kurz darauf lese ich ‘central tel aviv’, alle stehen auf, die meisten sehen sich ratlos um, einer der mitarbeiter schickt uns auf die andere straßenseite in einen hauseingang. wir verteilen uns im treppenhaus und in einem kleinen shelter. mir fallen die schönen fotografien der white city auf, die an den wänden hängen. ich sehe auf die uhr, es ist drei minuten nach 1. mich an om. feststellung zu den raketen zur vollen und zur halbenn stunde erinnert, vielleicht gelächelt. viel mehr gibt es nicht zu sehen, zu denken oder zu tun. nach ein paar minuten verlassen wir das haus, gehen auf die andere straßenseite, setzen uns wieder auf unsere stühle, ich schreibe in den nächsten stunden meine rezension zu ende (mehr oder weniger).

denke, wie sehr ich es liebe, dass man in tel aviv immer selbstverständlich in cafes arbeiten darf.

gut, dass ich seit einigen tagen eine app habe, in der man jeweils nur die orte einstellen kann, bei denen sie raketenalarm anzeigen soll.

abends nach yaffa zu einer kleinen kungebung gefahren, die sich gegen die leiterin vom red cross in der region, alessandra menegon, richtet. bis heute hat das rote kreuz die betreuung der geiseln nicht übernommen, ihnen keine der dringend benötigten medikamente gebracht etc. die namen der geiseln werden verlesen. es sind vor allem frauen da, die protestieren und mir fällt auf, dass mir seit 74 tagen die welt vor allem von männern erklärt wird.

ich laufe zurück nach tel aviv. auf dem weg, am clocktower in yaffa, komme ich an einer weihnachtsinstallation vorbei. ‘ach das ist ja auch noch’, gedacht.

erst hamas, abends der islamische jihad veröffentlichen videos mit geiseln, ältere menschen. die videos werden im fernsehen nicht gezeigt, aber allein die stills bringen mich (wieder) zum weinen. es soll neue verhandlungen geben.

20231218

“jetzt glaube ich, dass es das einzige land ist, in dem ich leben kann. ich habe immer nach möglichkeiten gesucht, im ausland zu arbeiten, ich habe die regierung verurteilt und gegen sie demonstriert, ich weiß, wie wir die palästinenser behandeln. trotzdem. das hat alles verändert. jetzt erst bedeutet es wirklich etwas. es ist als wäre ich erst jetzt teil davon. als habe ich es erst jetzt verstanden, was es bedeutet, hier zu sein, dass es dieses land gibt. […] du hast mich immer gewarnt vor dem antisemitismus überall, dem hass gegen juden und gegen israel, hast von den situationen überall gesprochen. ich habe es nie nicht geglaubt. aber jetzt verstehe ich es wirklich. alles ist anders.”

20231217

michael rapaport ist ein us-amerikanischer schauspieler. ich bin nicht gut in solchen dingen, erst als ich ihn gegooglet habe, wusste ich, dass ich ihn “aus dem fernsehen” kenne. vor ein paar wochen habe ich ein interview mit ihm gesehen, auf i24news. da ging es unter anderem darum, dass er geld an die idf spendet für hasskommentare, die leute unter seinen posts hinterlassen. ich bin ihm dann auf instagram gefolgt. bevor ich dies tun konnte, hat instagram mich gewarnt und gefragt, ob ich das wirklich möchte. ich gebe zu, es hat mich kurz irritiert. seit diesem tag ist rapaport zu einer relevanten konstante in meinem leben geworden. seine posts sind in der regel wütende, entsetzte, laute, unausgewogene rants, die sich gegen die hamas richten, gegen das rote kreuz, gegen antisemit:innen im allgemeinen und im besonderen. ich wäre gern so. er ist jedenfalls auch gerade in israel und hat gestern auf der kundgebung für die geiseln gesprochen.

den tag mit mi. verbracht, am meer gewesen und äthiopisch essen, im lieblings-äthiopisch-restaurant. über architektur gesprochen und über den krieg, über die geiseln und über tel aviv. über die wohnung, in der wir eine kleine weile mal zusammengewohnt haben und das haus, in dem sie ist und das jetzt abgerissen wird.

das dokument für ein neues projekt auf meinem rechner schon mal geöffnet. festgestellt, dass da schon wieder mehr drin steht, als ich erinnere, geschrieben zu haben. ich muss das nachts ohne aufzuwachen machen. anders kann ich es nicht erklären.

nachdem ich mich von der wohnungssuche in der schönst-möglichen wohnung langsam erholt habe, habe ich nun angefangen, nach einem ort zum volontieren zu suchen. leider sehe ich mich bisher noch nicht unbedingt in der feldarbeit.

20231216

die veröffentlichung der letzten staffel von the crown als entschuldigung genutzt, im bett zu bleiben. abends mit yo. and om. zur kundgebung für die geiseln gegangen. om. sagt, dass hamas raketen nur zur vollen und manchmal zur halben stunde schickt. danach alkohol.

gelesen, dass die 27jährige Inbar Haiman von hamas in gefangenschaft ermordet wurde.

20231215

ich weiß nicht, wie über den tag schreiben. morgens von den drei toten geiseln gelesen, die von der IDF gefunden worden waren – Elia Toledano, Nik Beizer, SGT Ron Sherman – und von den beiden soldaten – Oz Shmuel Ardi und Shay Uriel Pizem – die in gaza gefallen sind, abends dann die nachricht von drei weiteren toten geiseln, die von der IDF versehentlich getötet wurden, weil die soldaten sie für hamas-terroristen hielten: Yotam Haim und Alon Lulu Shamriz vom Kibbutz Kfar Aza und Samer Talalka, entführt aus dem Kibbutz Nir Am. ich habe gar keine worte dafür und hatte abends nicht einmal die kraft, zu der demonstration zu gehen.

den tag selbst in sehr typischer pre-shabbat-tel-aviv-weise verbracht: morgendlicher kaffee an öffentlichen orten, zum markt gehen, einkaufen, mich ein bisschen treiben lassen. alles immer mit dem gedanken, dass in den vergangenen wochen der shabbat-beginn von hamas immer genutzt wurde, raketen zu schicken, oft auch und besonders in richtung tel aviv. meine wege immer gescannt nach sheltern und nach anderen möglichkeiten, mich notfalls zu schützen. auch das hat mich müde gemacht. die raketen sollten nach einbruch der dunkelheit dann in richtig jerusalem gehen.

20231214

abends so müde gewesen und zum ersten mal wirklich erschöpft. dabei war es ein schöner tag und dabei hatte ich bei einem zoom-gespräch mit freundinnen in berlin eine halbe stunde vorher noch gesagt, dass es mir merkwürdiger weise gut geht.

mit ed. nach naharija gewesen, um lila zu treffen. shakshuka gegessen und aufs meer geguckt. zugehört. mich verbunden und ‘zu hause‘ gefühlt. das erste, was mir bei naharija immer einfällt, ist, dass die zuglinie dort endet. nicht, weil sie sich auf die verbindung zwischen zwei städten beschränkt, sondern weil sie wirklich zu ende ist. die lok fährt jedes mal langsam bis zu einer betonwand, so dass wirklich kein zweifel dazu aufkommt. rd. zehn kilometer nördlich beginnt der libanon. man weiß irgendwie immer, wie klein das land ist und man sagt zu anderen immer, dass das land einfach so klein ist. und manchmal weiß man dann einfach wirklich, wie klein es ist: mit dem zug von tel aviv sind es 1,5 stunden. als wir nachmittags wieder zurückfahren, verortet mich googlemaps irritierend lang in beirut.
in tel aviv hashalom station ausgestiegen, was ich nie mache, weil ich vor sehr vielen jahren mal versehentlich den ausgang zum azrieli center genommen hatte und anschließend ewig da rumgeirrt bin, sehr früh morgens nach einem flug aus berlin und mich, als ich doch wieder rausgefunden hatte, ein taxifahrer gnadenlos abgezogen hat und ich zu müde und zu unselbständig war, mich zu wehren. und das noch tagelang meine gedanken durchzogen hat. jedenfalls nutze ich nie hashalom station. auf dem weg zwischen bahnsteig und kaplan st. ist für ein paar minuten scheinbar alles wie bekannt: zu viele menschen, die zu laut sind, zu schnell, zu rücksichtslos, zu ich-bezogen, menschen die schreien, lachen, schubsen, schieben, dich umlaufen und ignorieren und böse ansehen. ‘wie früher‘, denke ich, und dass ich das nur denke, weil es eben anders ist. auf kaplan st., bei sarona, stehen verlassene weiße zelte mit transparenten und plakaten, einige sind abgerissen oder abgefallen, umgeknickt. ein szenario aus einer zeit danach, wenn niemand mehr einen ort wie diesen braucht, wenn es irgendwie nur noch eine erinnerung ist. ein paar meter weiter stehen dann ein paar wenige menschen am straßenrand und halten plakate hoch. die ordnung der gegenwart ist zweifelsfrei wieder hergestellt.

20231213

der tag beginnt noch vor dem kaffee mit nachrichten dazu, dass zehn soldaten im norden von gaza gefallen sind: Itzhak Ben Basat, Tomer Grinberg, Roei Meldas, Moshe Avram Bar On, Ben Shelly, Liel Hayo, Achia Daskal, Oriya Yaakov, Eran Aloni und Rom Hecht. gerade lese ich, dass der 41jährige Tal Chaimi vom kibbuz nir yitzhak für tot erklärt wurde, nachdem man bis gestern davon ausgegangen war, dass er unter den entführten ist.

die bilder von denjenigen auf plakaten zu sehen, deren tod mittlerweile bekannt gegeben wurde, macht irgendwas, das eh schon kaum aushaltbar ist, noch kaum aushaltbarer. die verzweifelte hoffnung, die in dieser permanten präsenz der personen transportiert wird, ist noch da und überall und dann eben gleichzeitig und mit sicherheit überall vorbei. keine ahnung. sehr wenige worte für sehr viele, sehr sehr viele emotionen, die meistens ängste sind.

gestern nacht die zusage für eine wohnung in tel aviv bekommen und am frühen abend umgezogen. eine wohnung genau in der gegend, in die ich wollte, die mir sehr vertraut ist auch wenn ich seit einigen jahren nicht mehr hier gewohnt habe. sehr white city und ich glaube, unter den tausenden fotografien, die ich von der stadt gemacht habe, sind auch einige von dem haus, in dem ich jetzt bin. eine wohnung, in der ich schnell ankomme. es ist schön schnell einfach, sich hier reinzufinden.

ich weiß, wo der nächste schelter ist und das treppenhaus erscheint mir brauchbar. die wohnung ist im (erhöhten) erdgeschoss und ich frage mich, ob raketen auch in erdgeschossen einschlagen. ed. sagt, bei raketenalarm nie in badezimmer bleiben wegen möglichen splitternden kacheln und spiegeln.

im am:pm mit der kassiererin über diese irritationen gesprochen wenn man eine sprache nicht gut genug kennt, um sich auszudrücken, aber irgendwie schon die fragen verstehen kann, die an einen gerichtet werden. zwei orthodoxe jungen zünden währenddessen channuka kerzen hinter dem kassenbereich an und alle, die im laden einkaufen, gesellen sich zu ihnen.

schreibe na., dass ich jetzt in tlv bin und sie bittet mich, dass wir uns bei ihr im norden der stadt treffen; sie könne nur an orte gehen, bei denen sie genau weiß, dass es viele shelter gibt und wo diese sind.

20231212

hummus gegessen, homeoffice gemacht, einen artikel fertig überarbeitet. Immer noch keine wohnung gefunden. damit wäre der tag zusammengefasst. aber im hintergrund lief mein neuer lieblingssender i24news und deshalb ein paar dinge, die es in die nachrichten geschaft haben:

die zahl der gefallenen soldaten musste heute morgen nach dem tod von tzvika lavi auf 105 erhöht werden.

die angriffe der houthi im roten meer intensivieren sich, unter anderem haben sie einen norwegischer flagge fahrenden tanker angegriffen.

ausgesprochen sehr oft und viel alarm im norden. gestern soll hisbollah raketen (erneut) in der nähe eines UN-geländes und einer schule abgefeuert haben

puma beendet sein sponsoring der israelischen nationalmannschaft, aber betont, dies sei nicht auf druck oder als politisches statemeant gemeint (naja, sag ich mal, naja)

die idf findet die leichen von zwei geiseln in gaza: eden zakaria (27), die hamas von dem musikfestival verschleppt wurde und ziv dado (36), der dem im 51. bataillon der golani-brigade angehörte.

sehr, wirklich sehr viel viel zu den geiseln gehört, darunter auch mögliche szenarien, unter denen sie freikommen könnten, nachdem es gerüchte zu neuen verhandlungen gab. der druck auf die regierung in der öffentlichkeit steigt, genauso wie die offensichtliche und manchmal eigentlich nicht auszuhaltende verzweiflung der familien und freund:innen. mit all den erzählungen der überlebenden, die bereits wieder in israel sind, wächst auch die angst.