20251029, noch dunkel am flughafen

du brauchst nur ein bisschen abstand, um darüber schreiben zu können, sagen alle, die ich frage und auch die, die ich nicht frage und ich weiß, dass das nicht stimmt, aber ich benutze es als entschuldigung und irgendwie merke ich, dass ich sowieso nicht mehr weiß, wo ich anfangen kann. tel aviv kommt mir wieder lauter vor, heller, bewohnter, wie früher. und ich glaube, mehr tourist:innen ausmachen zu können. obwohl ich nicht weiss, ob es menschen geben sollte, die sofort losgeflogen sind. viele amerikaner:innen, so viele. aber auch schon wieder deutsche, die am strand die welt erklären. ich schlafe an manchen tagen tief und für mehrere stunden, weil ich am nachmittag plötzlich so müde bin, dass ich nicht einmal mehr stehen und sitzen oder aufmerksamkeit für irgendwas haben kann. wir sprechen viel über die veränderte gegenwart. darüber zum beispiel, dass wir nachts weniger wach werden und auf telefon gucken. schneller wieder einschlafen, auch, weil es manchmal gar keine nachrichten gibt, die uns angezeigt werden. irgendetwas von der anspannung ist verschwunden. aber dann wieder zu schnell zu reaktivieren. heute zum beispiel, als israel wieder angriffe fliegt. es heißt immer, dass nun heilen beginnen könne. ich weiß einerseits nicht, was das heißt, aber zum anderen geniesse ich, dass wir jetzt anders über die letzten zwei jahre sprechen, mehr darüber, wie einzelne momente, ereignisse, abschnitte, zeiten für uns waren. es ist irritierend erleichternd. plötzlich eine vergangenheit in dem erleben zu sehen und sie ausprechen zu können. dabei ist gleichzeitig und dabei ziemlich langsam in ein bewusstsein durchgesickert, dass hamas die ermordeten geiseln nicht einfach zurück gibt. plötzlich gibt es einen neuen rhythmus, der aber viel unvorhersehbarer ist, zum einen, weil er keinen regeln folgt, hamas einfach im laufe eines tages ankündigt, abends leichen übergeben zu wollen, dies dann irgendwann passiert und dann ein warten bis zum nächsten morgen beginnt, bis die personenn identifiziert sind. manchmal übergeben sie dann aber doch niemanden und manchmal jemanden, der keiner der entführten ist, oder, wie letzte nacht, körperteile von Ofir Tzarfati, dessen leiche bereits im dezember 2023 von der IDF in gaza geborgen worden und dann beerdigt worden war. in der zwischenzeit gibt es ein drohnenvideo, in dem zu sehen ist, dass palästinenser ein loch graben, anschließend sterbliche überreste von Tzarfati aus einem nebenliegenden gebäude holen und sie hinein legen, erde darüber verteilen und dies dann den roten kreuz-mitarbeiter:innen präsentieren als etwas, dass sie nun für sie freilegen. mein hass, mein ekel, meine fassungslosigkeit, mein erschüttert-sein waren lange nicht so groß. wirklich. ich merke, wie mein gehirn versagt beim versuch, diese grausamkeiten zu begreifen. 13 geiseln werden nach wie vor festgehalten: Sahar Baruch, Itay Chen, Amiram Cooper, Meny Godard, Hadar Goldin, Ran Gvili, Asaf Hamami, Joshua Loitu Mollel, Omer Neutra, Dror Or, Oz Daniel, Lior Rudaeff, Sudthisak Rinthalak. die angehörigen sind sehr präsent, die überlebenden nehmen in jede ihrer erklärungen auf, dass sie zurück kommen müssen. ihre angehörigen nehmen sich weiter die zeit, sich an den kundgebungen und kampagnen zu beteiligen. die beiden letzten samstag-demonstrationen, auf denen ich sein konnte, waren enorm gut besucht. und haben nun eine neue dynamik durch die neuen extreme und verzweiflungen. menschen, die mit der freilassung der 20 überlebenden ihr ketten und armbänder abgelegt haben, legen sie wieder an. es ist irgendwie schwerer, aber es geht irgendwie auch selbstverständlich weiter. obwohl ich immer wieder merke, wie sehr einige menschen wollen, dass es vorbei ist. letzten samstag zum ersten mal auf einen mob aus bibi-anhänger gestoßen, die am rande der kundgebung provozierten. das alles ist noch lange nicht vorbei, gedacht. und ja, das alles ist noch lange nicht vorbei ganz unabhängig davon, dass die 13 endlich zurück müssen. nir oz besucht. Gadi Moses wiedergesehen und Efrat lange zugehört. veränderungen gesehen. aber auch die nach wie vor zu präsente zerstörung. und nach wie vor den brandgeruch gespührt. e. zeigt mir irgendwann eine nachricht aus deutschland, in der ihr jemand schreibt, ob israel denn wirklich für diese (damals noch) 19 toten geiseln den frieden riskieren will. sie sofort in die lange liste meiner verstörungen aufgenommen und es irgendwo eingekapselt, weil auch dies zu den dingen gehört, die ich nicht verarbeiten kann. in den letzten tagen mehrfach gesagt, dass ich angst habe, zurück nach deutschland zu kommen, weil ich wieder in situationen leben werde, in denen ich bestenfalls etwas erklären kann, über etwas sprechen kann, und etwas ist eine situation oder eine erinnerung, aber nicht teil einer gleichwertigen kommunkationen als austausch über etwas bin.

das nicht schreiben wollen begann an einem abend bei s. und y., zudem ein mit ihnen befreundetes paar eingeladen war, sie künstlerin, die einige monate für eine residency in paris war und davon erzählt, dass sie sich nicht getraut hat, hebräisch zu sprechen, zu erwähnen, dass sie aus israel kommt, arbeiten auszustellen, die dies verdeutlichen. nachdem ich mich sehr lange über die situation in berlin und europa ausgelassen habe gegenüber menschen, die doch so gute erfahrungen in der stadt hatten, aber sich in italien nur trauten, sehr leise hebräisch zu sprechen, sagt die frau zu mir, wie dankbar sie dafür sei, weil sie seit ihrer rückkehr immer vermittelt bekommt, dass sie übertreibe, dass es so schlimm doch nicht sein könne, dass sie einfach nur persönlich pech hatte. ich komme tagelang nicht über diese verstörung hinweg, und auch nicht über die, dass menschen, die so gebildet sind, nicht verstehen, wie antisemitismus funktioniert, die denken, wenn sie sich nur weit genug und immer und immer wieder von der regierung distanzieren, es schon gut gehen wird für sie. ich bin so ko nach diesem abend. wobei natürlich ko sich nur als weiterer layer über ko-sein legt. wobei ich jetzt manchmal wirklich denke, dass ich mich tatsächlich wieder ausruhe, wenn ich mich hinlege. irgendwas fällt ab, irgendwelche erstarrungen lösen sich. das alles ist noch lange nicht vorbei, und ändert sich trotzdem.

auf der beerdingung von Inbar Hayman gewesen, den anfängen der beerdingungs-wege von Ronen Engel und Yossi Sharabi begewohnt. n. in jerusalem getroffen und endlich ihre mutter kennengelernt. n., die mir damit einen raum möglicher anwesenheiten aufmacht, einen rückzug in einer welt, die eine wohnung ist, die man nur aus beschreibungen einer anderen zeit kennt. ich war ewigkeiten hier. wirklich ewigkeiten die in keiner beziehung zu sieben tatsächlich zählbaren wochen stehen. ich habe keine einzige ausstellung besucht und ich habe vor allem die stadt und einige orte außerhalb ihrer grenzen nicht in der gleichen weise besucht, die ich sonst praktiziere, also des bewussten aufsuchens, der bewussten rückkehr und sei es nur für einen moment. ich habe so viele rituale abgelegt. wenigstens für diese sieben wochen. die gleichförmige selbstverständlichkeit meiner anwesenheit ist etwas, über das ich mich zwingen muss, nachzudenken. ich habe in den letzten sieben wochen irritierend wenig über meine anwesenheit nachgedacht und mich erstaunlich wenig in meiner beziehung zu ihr beobachtet.

741. oktober, ein erster versuch

seit tagen mogele ich mich um das schreiben herum, aber anders, als bei allen anderen versuchen in den letzten fast zwei jahren. versuche mich mit momenten zu überreden, frühstück im lieblingscafe dazu oder bier und zigarette in einer kneipe. jetzt sitze ich auf dem sofa in meiner wohnung, habe aber immerhin kaffee geholt und mir ein croissant erlaubt. es geht jetzt nicht mehr, über den 7. oktober zu schreiben und komischerweise geht es auch nicht, über einen der darauffolgenden tage zu schreiben, über das gefühl, hoffen zu wollen und es sich zugleich nicht erlauben zu können, nochmal ein anderes gefühl von angst zu haben. montag kamen dann, in zwei stufen, 20 überlebende zurück: Gali und Ziv Berman, Alon Ohel, Matan Zangauker, Ariel und David Cunio, Omri Miran, Eitan Horn, Guy Gilboa-Dalal, Eviatar David, Avinatan Or, Bar Kuperstein, Eitan Mor, Rom Braslavski, Yosef-Chaim Ohana, Elkana Bohbot, Nimrod Cohen, Maxim Herkin, Matan Angrest, Segev Kalfon. obwohl schon klar war, dass hamas nicht wie vereinbart, die 28 ermordeten ebenfalls an isarel übergibt, setzte sich dies erst langsam in der wahrnehmung durch. es gibt viele videos, wie menschen ihre ketten oder gelben schleifen abnehmen. abends kamen dann vier särge zurück: Guy Illouz, Bipin Joshi, Yossi Sharabi und Daniel Peretz. am nächsten tag drei weitere: Tamir Nimrodi, Eitan Levy und Uriel Baruch und gestern nacht dann Inbar Haiman und Muhammad el-Atrash. hamas verstieß zwar damit gegen das abkommen, aber es schien, dass es quasi keine druckmittel für israel dagegen gibt. nun sagen sie, mehr hätten sie nicht lokalisieren können. wir sehen wieder besessen die videos der überlebenden an und wir hören wieder geschichten der gewalt; von käfigen, so klein, dass man darin nicht stehen konnte, von einsamkeit und isolation, von angeketteten körpern, von schlägen und anderer gewalt, von wenigem bis keinem essen, von keinem sonnenlicht, zu wenig luft zu atmen, manchmal über die gesamten zwei jahre. gestern abend war ich auf der beerdingung von Daniel Peretz. Matan Angarest war da, der vater von Itay Chen, dessen leiche immer noch in der gewalt der palästinenser ist, ebenfalls. Matan hat gesprochen. wie zerbrechlich er ist. wie traurigkeit aussieht.

mehrmals zu anderen gesagt, dass ich noch nie in meinem leben so viele gefühle gleichzeitig hatte, die sich dabei in so einer großen spannbreite bewegen. und wie gleichzeitig rahmen und anker fehlen, sie zu fassen zu bekommen, einzuordnen. überwältigt ist zu wenig. auch hierbei und jetzt geht die suche nach superlativen weiter, dabei die wiederkehrende erkenntnis, dass die worte, die ich kenne, nicht ausreichen, auch nur annähernd zu sagen, wie es mir geht, was ich denke. mehrmals höre ich etwas zu den geräuschen, tönen, schreiben, die die angehörigen machen, als sie die überlebenden wiedersehen. wie diese kommen aus dem tiefsten ihrer körper, wie sich alles in sie legt, wie man sie nie vorher gehört hat, wie sie sich tief eingraben. auch dafür gibt es keine begriffe.

jetzt endlich kann ich außerhalb meines kopfes zugeben, dass ich angst hatte, das Ariel Cunio ermordet wurde, merke ich die erleichterung, dass (weitere) 20 das tatsächlich überlebt haben. wie gut man sie kennt. wie irritierend das bleibt. jetzt merke ich, dass (auch) ich anders atme. selbstverständlicher. habe in den letzten tagen so oft gehört, dass ich es verdiene gerade hier zu sein, so oft, dass ich es fast selbst glaube, mich dann aber doch immer auch daran erinnere, dass das eine merkwürdige feststellung bleibt, egal wie viele menschen sie wiederholen.

und ich habe bewusst zum ersten mal seit zwei jahren etwas allein vorfreudiges angedacht, dass zudem in unüberschauberer ferne liegt: konzerttickets für the cure im nächsten sommer gekauft.

20251006, abends

seit ein paar tagen gibt es einen vorschlag für einen neuen deal, einen 21-punkteplan, als deren erster schritt alle 48 geiseln freikommen sollen. seit heute wird dazu in ägypten verhandelt. so nahe waren wir noch nie und manchmal erwische ich mich und andere, dass wir sachen denken wie: vielleicht mache ich das jetzt zum letzten mal oder wenn das vorbei ist, fahre ich erst einmal nach griechenland und mache urlaub oder vielleicht lohnt es gar nicht mehr, sich noch ein tshirt zu kaufen. dann erschrickt man, immer. weil hoffen geht nicht, es ist nicht gestattet oder vielleicht ist es gestattet aber die angst schnürt alles ab. wirklich. die angst schnürt alles ab. ich schlafe wieder im stunden-rhythmus und wenn ich das jemandem gegenüber zugebe, sagt er oder sie, dass auch er im stunden-rhythmus schlafen. es ist ein bisschen peinlich, weil wir alle ja wissen, dass nachts sowieso keine nachrichten dazu kommen werden. es fühlt sich an, als wäre mein körper nocheinmal unter einer neuen art der anspannung. ich kann mich wieder weniger konzentrieren. aber anders weniger konzentrieren als in den monaten nach dem 7. oktober. ich will so sehr, dass jetzt alle zurückkommen. s. schreibt, dass sie so angst hat, wer noch alles tot sein wird. weil das jemand als lebend gilt, heißt ja auch nur, dass man das gegenteil bisher nicht weiß. und ich vermute, wir haben gleich gesichter und namen und geschichten im kopf. ich habe sie. aber ich würde sie nie aussprechen. komisch, dass diese art von vorstellungen unglück aufzuhalten, immer noch funktioniert. und hamas sagt, sie brauchen mehr zeit, weil sie nicht wüssten wo alle sind. warten. auf der demo am samstag waren so viel mehr leute und es war so viel mehr eine nochmal andere stimmung. Einav Zangauker hat geschrieen, Gadi Moses hat gesprochen, Omar Shem-Tov auch und eine tante von Hadar Goldin. dieses angehörige jetzt erkennen, auch wenn man sie außerhalb des hostage-square-und-demonstrations-raumes sieht. am freitag bin ich mit einer frau aus kfar azza in den süden gefahren, erst zu einer der kreuzungen, an denen angehörige protestieren und übernachten, dann zu einer gedenkveranstaltung für Hadar Goldin. sie spricht nicht, über das, was ihr passiert ist und ich will nicht einfach danach fragen. sie erzählt von ihrer freundin als wir eine yellow gas station passieren, an der sie ihr immer kaffee gekauft hat, bevor sie sie im krankenhaus besuchte und davon, dass sie hier nie wieder gehalten hat und dass sie keinen espresso mehr trinkt. am samstag fragt sie mich, ob ich mit ihr zur gedenkveranstaltung nach kfar azza begleite und dabei erfahre ich, dass diese freundin Gila Peled war, die gemeinsam mit ihrem mann Yozar und dem sohn Daniel am 7.oktober in ihrem haus in kfar azza ermordet wurden. ein paar stunden später schreibt sie mir, sie könne nicht fahren, angstattacken und keine kraft, das haus zu verlassen. ich fahre dann nach jerusalem zu einer 101-kundgebung und erlebe zum ersten mal, wie diese veranstaltungen hass auslösen bei anwohnerinnen und vorbeigehenden. jemand schenkt mir einen weißen pullover, weil es abends nun schon kalt ist. das zentrum von jerusalem ist voll mit menschen, religiösen amerikaner:innen vor allem. es ist laut und fröhlich und überladen. es ist zu viel. und zu ungewohnt. und man kann fast vergessen, dass die realität anders ist.

jemand schrieb heute irgendwo: jetzt haben die leute begonnen, sich für die nova-party fertigzumachen und loszufahren. ich kann mich einfach nicht erinnern, was ich am 6. oktober gemacht habe. ich muss das vielleicht auch gar nicht, ich habe niemanden verloren und keine erinnerungen an ein davor festzuhalten. aber ich wüsste gern präsenter, wie das war und vielleicht konkreter trotzdem einfach gern, wie der tag davor für mich war. vermutlich langweilig, ich weiß.

ich fotografiere kaum noch. und ich weiß nicht genau, warum. ist alles um mich herum so normal für mich, dass ich es nicht mehr mit bildern bannen muss? oder bin ich einfach nicht mehr interessiert, es zu tun. entdecke ich nichts neues mehr. nichts was mich beschäftigt. wenn ich das überdenke, und das tue ich in selbstbeobachtung seit mindestens zehn tagen, ist es interessant, aber es löst nichts aus. vielleicht ist es einfach nur teil einer depressiven irgendwas.

ich sitze in meiner wohnung und draussen ist es laut und fröhlich und singen. es ist der erste abend von sukkot.

20250928, abends

ich schlafe viel und tief und lange, aber ich kann nicht nur nicht einschlafen, sondern habe panische angst vor dem einschlafen. seit dem ich mir den zustand des wartens bewusst gemacht habe, ist er mir fast immer bewusst. und ich pflanze die idee in die köpfe anderer wenn wir darüber sprechen, was anders ist, was unseren alltag ausmacht. o. sagt, er kann nicht glauben, dass dieser krieg seit zwei jahren unsere realität ist. dass er sich erinnert, wie am anfang einige dachten, ein jahr max. und wie unvorstellbar das erschien. ich sage, wie krass es mir ist, dass wir phasen darin haben, geschichten, verschiedene zeiten. dass die zeit weitergeht und gleichzeitig stillsteht. dass immer noch 7.10.23 ist. die unnormalität ist realität geworden und normal. ich glaube, dass ist es, was die größte veränderung für mich ist seit april 25: das es normal ist, dass ich mich auf eine weirde weise gewöhnt habe an einen ausnahmezustand. am nächsten morgen hat trotzdem immer ein coffeeshop offen, schreibe ich jmd. auf instagram und sie antwortet mit einem lachenden emoji: ja. die tage vergehen schnell und übersichtlich, in routine. wir verlassen das haus nicht, wenn die raketen aus dem yemen kommen, auch nicht als wir wissen, dass eine drohne in einem hotel in eilat einschlägt. ich merke, dass auch ich weniger auf geld achte, es ist irgendwie verschwommen, darüber nachzudenken. ich gebe zu viel aus und verspreche mir, dass ich in deutschland wieder mehr darauf achte, e. aber auch, dass ich im dezember wiederkomme und wir dann endlich mal ein paar touren machen, uns synagogen angucken zum beispiel. wir alle sind uns immer einig, dass wir nicht mehr planen und dass wir mit anforderungen von menschen in deutschland, konkrete vereinbarungen zu treffen, nichts anfangen können und auch nichts anfangen. ich sage einfach immer zu allem ja und mal sehen und habe den verdacht, dass der november zum beispiel über mir einbrechen wird. ich höre zu viel über finanzielle probleme. jedes gespräch ist immer noch nach wenigen sätzen bei den geiseln oder dem krieg, aber wir sprechen routinierter irgendwie. wie die parolen auf den kundgebungen sich wiederholen und dabei vielleicht weniger bedeuten, oder anderes, wie die geiselangehörigen wissen, dass sie allein sind und unsere versicherung אתה לא לבד eigentlich auch uns aufrecht halten soll, wie wir ein bisschen vielleicht die wiederholung und herstellung der struktur brauchen, und wie wir wissen, dass wir offensichtlich nichts ausrichten, so wissen wir in unseren gesprächen auch nicht mehr anders oder neues zu sagen, über die geiseln, und über die angst, und über den krieg. und reden trotzdem über wenig anderes. vielleicht ist es gar nicht das schlimmste, dass verzweiflung immer mehr wird und immer schwerzhafter, vielleicht ist das schlimmste, wie wir mit ihr leben lernen und wie sie sich eingräbt in unsere körper. es gibt eine für mich neue beziehung zwischen ausnahmezustand und gewöhnung. und immer denkt man: wie schlimm muss es erst für die angehörigen und freund:innen sein und immer fühlt man sich schlecht, wenn man etwas schönes macht oder wenn man es nicht hinbekommt, auf die kundgebung zu gehen. wie ich gestern.

mein gefühl sagt mir, dass ich schon wochen hier bin. dabei bin ich erst letzten freitag zum flughafen gefahren, damit e. mir mit ihrer rückkehr meinen neuen rechner übergibt, weil ich den alten drei tage vorher endgültig gecrasht habe. ich weiß nicht, was es ist mit meinen macbooks und tel aviv. dabei passiert nicht viel. und trotzdem alles. ich kann das gefühl nicht fassen, das ich habe. aber zwischendurch werden es bekannte depressionen. ich höre natürlich nicht einfach auf zu atmen, aber ich muss mich zu oft daran erinnern, es nicht zu tun. ich bekomme plötzlich komplimente, etwas, dass mir seit jahren nicht passiert ist. ich fahre nach sderot, nova-gedenkstätte und re’im. ich verstehe die erzählungen nicht und ich verstehe alles daran. das nova-gelände wird weiter zu gedenkstätte, nun mit markierten räumen, die von ereignissen erzählen sollen, von den gelben containern zum beispiel und von der mushroom bar. es gibt immer noch keine bushaltestelle, aber es gibt so viel mehr tafeln für die einzelnen opfer und viele beginnen sich in ihren inhalten zu ähneln. zwei männer kommen, die eine 2 und eine 5 als luftballon dabei haben. sie binden sie an eine der tafeln. und sie weinen. die zeit vergeht nicht. der schmerz steht zwischen den bäumen und zwischen den schildern. im hintergrund hören wir die einschläge in gaza city. sie sind viel lauter als ich sie vom dezember 2023 in erinnerung habe. aber die gedanken, die aus der verbindung von ort und geschichten und zerstörung in gaza entstehen, sind die gleichen. sie überrraschen mich nur weniger. ein angehöriger von Noa Zander führt uns über das gelände und später zu einem der shelter bei re’im. da erst verstehe ich, dass Noa Zander die frau war, von der ich im letzten jahr eine erinnerungsstätte an diesem ort gefunden hatte, zufällig, als ich nach einem gangbaren weg zur nova-gedenkstätte suchte. es war ein provisorum, klein und ist jetzt durch ein denkmal ersetzt. das erinnerungszeichen damals war für mich irgendwie ein synonym für die gegenwart der erinnerung, für ihre unmittelbarkeit und für das gefühl, dass man hier jederzeit auch unvorbereitet und jenseits des sich definierenden gedenkortes auf sie treffen kann. und vielleicht ist es in seiner jetztigen form ein synonym auch dafür, dass sie das gedenken verfestigt. die menschen, die wir in re’im treffen, sprechen mehr über die zeit ab dem 7. oktober als über den tag selbst. die reisegruppe pflanzt einen zitronenbaum, wir sehen die neuen häuser, die gebaut sind und noch werden, wir sehen weniger von den zerstörungen und dem schrecken und kaum etwas von erinnerungszeichen. als der bus zurück fährt entlang der felder und landschaften denke ich wieder, wie viele orte es hier zum verstecken gibt und wie viel vernichtungswillen die täter hatten, die zu finden.

e. ist während der tage des iran-krieges in mein zimmer gezogen und da geblieben. hat sich eingerichtet und mir ihr schlafzimmer überlassen. das ein eigenes bad hat und ein schönerer raum ist, aber eben kein schutzraum. auch das sagt irgendetwas über irgendeinen teil der situation. ich höre das interview mit Ora Rubinstein, der tante von Bar Kupershtein, und am ende hiess es plötzlich, dass wir morgen vielleicht in einer anderen situation sind; in einer, in der wir wissen, dass der krieg aufhört und alle geiseln nach hause kommen. vor ein paar tagen stand ich auf dem platz der geiseln und die tafel, die das verstreichen der zeit anzeigt, war ausgefallen und ich dachte für einen moment, wie es sein könnte, wenn wir sie nicht mehr brauchen.

noch einmal wurde ein video von Alon Ohel veröffentlicht, noch einmal mussten Eitan Horn, Yosef Haim Ohana, Ziv und Gali ihren geburtstage in der gewalt der palästinenser verbringen. Yossi Sharabi hätte seinen 55. geburtstag feiern sollen. Edan Alexander hat seine rückkehr zur IDF angekündigt. in berlin gingen am wochenende 60- bis 100.000 menschen für gaza auf die straße.

20250916, später abend

ich habe zu viele gefühle, zu viele eindrücke zum schreiben. aber ich denke, wenn ich es nicht jetzt noch mache, gibt es morgen schon zu viele neue gefühle und eindrücke, und am ende ist alles ein wabern.

gestern nacht nicht einschlafen gekonnt, aus angst, dass wir am nächsten morgen schlimme nachrichten bekommen. und ich fühle mich dem nicht gewachsen. seit gestern abend gibt es eine grossoffensive in gaza city und man weiß, dass hamas geiseln als schutzschilde aus den tunnel geholt hat. was für ängste die eltern, frauen, kinder, familien, freund:innen haben müssen, was für ängste. nachts kam dann ein aufruf nach jerusalem zu kommen, aber da war der letzte zug gerade abgefahren und ich dachte zum ersten mal, mist, dass ich kein auto habe. und heute gab es zu viele dinge. morgen dann, ich versuche.

wir hören und fühlen manchmal die detonationen und wir haben uns nach den ersten sofort daran gewöhnt.

tage sind schon wieder ewigkeiten.

abends in suzanne dellal ein stück der Kamea Dance Company gesehen. eines der drei letzten tickets gekauft und erleichtert gewesen und dann in der vorstellung bleiben ein drittel der plätze leer. es ist so leise. dass ich nicht dachte, dass israelis so leise sein können. in der straße davor gibt es seit mindestens mehr als einem jahr den großen bring them home schriftzug an einem bauzaun. gestern sehe ich dann, dass das bring fast vollständig verschwunden ist und ich denke, wie strange und dann auch, dass es offensichtlich wenig versuche gibt, neue kampagnen und zeichen im öffentlichen raum zu platzieren. so wie das banner sehen viele andere plakate, graffiti, bilder, schleifen, transparente auch aus. und es ergibt sich eine merkwürdige diskrepanz zur tatsächlichkeit, in der wir sind. und ich frage mich dann, ob es vielleicht dafür auch einfach keine kraft mehr gibt. die bilder verblassen, die zeichen verblassen. obwohl es noch lange nicht an der zeit dafür ist. obwohl wir noch mittendrin sind. am habima eine durchlaufende videoinstallation gefilmt, die noch geiseln zeigt, die nicht mehr in gaza sind, Edan Alexander zum beispiel, Judy Weinstein and Gad Haggai. wie komisch das ist, dass niemand sich mal die mühe macht und zeit nimmt, das zu ändern. am samstag abend bemerkte ich, dass es viel selbstverständlicher und viel umfangreicher passiert, dass auf den bildschirmen gewaltbilder des 7. oktobers gezeigt werden.

bei gestrigen tag und nach lunch im fast leeren yom tov und nach abgabe der kommentierten druckfahnen nochmal zur kreuzung pinsker / allenby / ben yehuda gegangen. bei tageslicht wird es nicht einfacher, die zerstörten häuser zu sehen. und erst jetzt verstehe ich, wie groß die betroffene fläche ist, wie viel mehr als nur die zur straßen ausgerichteten fassaden. niemand scheint die straßen zu nutzen ausser mir und drei amerikanischen tourist:innen.

im bus setzt sich eine alte frau gegenüber, sagt etwas auf hebräisch, vermutlich zur hitze und schwere des moments. ich antworte, dass ich kaum hebräisch spreche, sie daraufhin in gebrochenem englisch, wie schlimm alles sei und mit fingerzeig auf meine kette, dass sie jeden tag um die geiseln weine. ich auch, nicke ich und als sie mir ihre hand auf den arm legt, weinen wir beiden einen moment. danach mit lila im bucke, in dem nur noch fünf andere menschen saßen und in dem sich niemand die mühe gemacht hatte, eine veränderte speisekarte noch ins englische zu übersetzen. danach gesehen, dass das Nechama Vehezi geschlossen ist, also so richtig, nicht einmal mehr möbel und die kneipe/bar nebenan auch, danach auf dem habima platz gesessen und jmd. sagt am telefon, er will derjenige sein, der mich fragt, wie es mir geht.

jetzt fällt mir noch ein, dass ich letzten freitag zum ersten mal vor shabbat den shuk besucht habe und mich ohne gedränge bewegen konnte.

und jetzt merke ich schon, dass ich heute wieder nicht einschlafen werde, dass sich das gefühl der erwartung von etwas, dass bald realität ist, wie blei unter meine haut zieht.

ich habe zu viele gefühle, zu viele eindrücke zum schreiben. aber ich denke, wenn ich es nicht jetzt noch mache, gibt es morgen schon zu viele neue gefühle und eindrücke, und am ende ist alles ein wabern.

20250914, vormittags

gestern nacht beim laufen durch die king george gedacht, dass ich einfach nicht mehr weiß, wie es vor dem 7. oktober in der stadt war, dass ich, wenn ich denke, dass es jetzt leer und dunkel und verlassen ist, vielleicht einfach vergessen habe, dass es schon immer so war. ich ahne, dass es nicht stimmt, aber ich weiß es nicht mehr. ich bin plötzlich unsicher. ich weiß um die unverlässlichkeit von erinnerungen, aber / und ich kann mich einfach nicht daran erinnern, je durch eine so leere, so stille, so dunkle, so verlassene innenstadt gelaufen zu sein. wir waren erst bei der kundgebung am hostage square und weil ich lange auf j. warten musste, konnte ich mich reinsteigern in den gedanken, dass ich nach mehr als fünf monaten in eine situation zurückkomme, die sich nicht verändert hat und in der sich zugleich so viel verändert hat. dass wir immer noch hier herkommen müssen, dass sie immer noch nicht zurück sind, sagt jede von uns mehrmals. wir weinen viel in den kommenden fast 90 minuten. all die menschen sind in den mehr als 5 monaten woche für woche weiter erschienen. all die angehörigen und überlebenden sind in den mehr als 5 monaten woche für woche weiter erschienen. Keith und Aviva Sigel sprechen, Sharon Cunio spricht, Alma Or spricht. auch die kundgebung ist leiser. nicht nur weniger rufe und parolen, auch weniger gespräche. es ist auf eine merkwürdige weise auch hier trotz tausender menschen leerer, stiller, dunkler, verlassener. ich bin froh, zurück zu sein, ich bin froh weinen zu können. ich bin froh, wieder in der realität zu sein, die meinen gedanken den tatsächlichen raum gibt. ich bin froh, nicht mehr aufmerksamkeit für das thema durchsetzen zu müssen, ich bin froh, mich nicht mehr schuldig oder fremd fühlen zu müssen, weil ich schon wieder damit anfange und weil ich über nichts anderes reden will. irritiert denke ich immer wieder an den moment der ankunft, der kein wieder-da-sein war sondern eine bruchlose fortsetzung. es ist mir erst gestern aufgefallen, als j. und ich unser sosein des hierseins abgleichen. das weinen bleibt in meinem kopf, auch wenn wir bestes essen am dizengoff haben und auch wenn wir über alles andere sprechen, auch das gute. irgendwann werde ich kopfschmerzen bekommen. ich rauche ohne alkohol und es widert mich ein bisschen an. aber das gefühl, mich an etwas festhalten zu können, überwiegt. auch, weil ich mich nicht betrinken will. obwohl ich mich natürlich nur betrinken will.

vor einigen nächten bin ich unbeabsichtigt zur pinsker / allenby gelaufen. auch hier war es leer und still und dunkel und verlassen und die kulisse waren die ruinen der häuser nach den angriffen aus dem iran. es sind 800 meter luftlinie zu meiner jetzigen wohnung. als ich da stehe, erinnere ich mich, dass ich 2017 mal in einem der häuser gewohnt habe, allenby 38, ein schreckliches haus, spooky und eine schlimme zeit. es scheint nicht beschädigt worden zu sein. was merkwürdig ist, weil in der hauszeile sind wenigstens alle fenster rausgeflogen. auch das große, mehrstöckige haus gegenüber ist fensterlos, man kann teile der konstruktion sehen. der supermarkt ist geschlossen, die fenster mit platten versiegelt, alle bars, cafes, restaurants die es hier gab, sind zu. mir hat die kraft gefehlt, noch auf die andere seite der straße und in die pinsker st. zu gehen. da ist es noch schlimmer und ich muss es mir für ein anderes mal aufheben. und vielleicht an einem tag hingehen. mit licht und so. die gewalt der zerstörung und die sichtbarkeit der gewalt trifft mich überraschend unvorbereitet, obwohl ich vorher alles wusste. 43.000 wohnungen seien zerstört worden in diesen 12 tagen, sagt j., aber uns fällt nicht ein, wie viele menschen insgesamt starben, nur das es acht bei dem einen einschlag in Bat Yam waren. sie habe hinfahren wollen, sagt j., aber sie schafft es nicht.

das angebot der verkaufstische am hostage square hat sich wieder erweitert. ich erinnere mich an meinen entschluss, die dinge immer erst zu erwerben kurz vor dem abflug und halte mich daran. fürs erste, weil eigentlich, was ist der punkt. tahini kostet 21 shekel im supermarkt. im humusladen in der malan werde ich erfreut begrüsst. vorgestern nacht gab es alarm in tel aviv. ich habe ihn verschlafen.

709 tage.

20250910, aber über 20250909, aufgeschrieben online und am abend

die flugzeuge sind immer noch voll. es. gibt deutlich mehr polizei für uns auf dem flughafen. die passagier:innen sind irritierend still. aber irgendwie auch ruppiger, rücksichtsloser. ich traue mich nicht, mich bei dingen, die mich nerven, zu wehren. weil das erste was ich jeweils denke, immer ist, was der person alles widerfahren sein könnte. der weg entlang der bilder der geiseln bleibt lang. auch alles andere ist noch da: die installation, die porträts bei dem passeinlese-gerät. bei der passkontrolle stehe ich zum erst mal seit ende 2023 wieder mit zu vielen menschen an. es dauert ewig, nur zwei offene schalter. chaos. laut. anstrengend. alle werden intensiv befragt, und als ich dran bin mit all meinen geschichten im kopf fragt sie nur, was ich hier machen werde und ob ich schon oft da war. nicht mehr als 10 worte von mir und ich darf rein. wie immer bin ich irritiert. aber wie lange nicht muss ich kurz weinen, als ich in hagana den bahnhof verlasse. ein komisches gefühl von nach hause kommen und zu vielen emotionen. die ticketpreise sind auf 8 shekel gestiegen. was viel ist. es gibt mehr gelbe schleifen, mehr bringthemhome schilder. von einem der hochhäuser hängt ein riesiges transparent mit dem bild des misshandelten und verletzten Matan Angrest. die wohnung ist schön, der geruch ist vertraut, es ist warm und gibt ein bisschen wind. die idf hat die hamas führung in katar angegriffen. wir warten wieder einmal, was kommt. auch das ist ein vertrautes gefühl und das fällt mir erst auf, als ich das hier aufschreibe.

700ter october, mittags

seit tagen denke ich wieder darüber nach, wie viele neue jahrestage es gibt. heute sind es 700 tage, am kommenden sonntag 23 monate. wir denken aber weniger die wochen. vor 17 tagen war die erste yahrzeit der ermordung von Eden, Carmel, Ori, hersh, Alex und Almog, vor sechs tagen jährte es sich nach dem gregorianischer kalender. am 20. august war es ein jahr her, dass es der IDF gelang, die leichen von Alexander Dancyg, Haim Peri, Yoram Metzger, Avraham Munder, Nadav Poplwell und Yagev Buchstav nach israel zu bringen. wir erinnern weniger an geburtstage. seit tagen denke ich auch über die situation des permanenten wartens nach. jeden tag erwarte ich etwas. mir ist gerade merkwürdig bewusst, dass und welche anspannung in meinem körper ist. die ganze zeit. immer. heute morgen wurde bekannt, dass hamas ein neues video veröffentlich hat, in dem zwei geiseln zu sehen sind. eine wurde unmittelbar als Guy Gilboa-Dalal benannt. dann haben wir gewartet, wer die zweite ist. vor einer stunde wurde Alon Ohel benannt. nun warten wir, dass die familien die veröffentlichung von bildern oder des videos selbst gestatten. immer warten. heute ist es konkret. in den meisten tagen ist es unbestimmt. 700 tage. ich erinnere mich tag 500. und es ist einfach nicht zu verstehen, wie 200 tage vergangen sind / sein können. in meinen ordnern sammeln sich weiter / wieder die geschehnisse, die ich gern notieren würde. mir fehlt die kraft und ein bisschen mehr noch der mut. gestern nacht mit zwei freunden erst eine veranstaltung besucht, dann auf einem balkon geraucht. drei stunden geredet über nichts anderes. jmd. sagt zwischendurch, wie absurd das sei, dass wir gerade sicher sein können, mit menschen zu sein, denen es genauso geht wie einem selbst, aber dass das nicht dazu führt, dass man in schweigendem einverständnis andere dinge bespricht, sondern dazu, dass man redet über nichts anderes.

es sind noch 48 geiseln, vor einer woche konnte die IDF die leichen von Ilan Weiss und Idan Shtivi nach Israel bringen.

gerade kommt die nachricht, dass die familie von Guy Gilboa-Dalal die veröffentlichung eines ausschnittes des videos erlaubt hat.

20250816, aber in vielen tagen

nicht mehr in england. gestern nacht zurückgekommen. mich einsam gefühlt, sehr. plötzlich mit luft nehmender klarheit nicht gewusst, wohin mit all den gedanken, gefühlen, ereignissen, ängsten. keinen raum bei niemandem gesehen. und dann wie immer irgendwann dabei gedacht, wenn ich jetzt nicht mehr wäre, würde es einfach 24 stunden, zwei tage, vielleicht sogar eine woche, nicht auffallen. das ist nicht nur selbstzerstörerisch, das ist auch interessant. persönlich gesehen befinde ich mich mit einem schlag in einer neuen realität. seit zehn jahren antrainierte muster gelten nicht mehr. oder gelten anders. ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll, wie neue rahmen setzen. und ob überhaupt. kann ich jetzt boxen lernen? will ich wieder anfangen, zu laufen? lohnt es sich, einen plan für nächsten mai zu machen? kann ich ein ticket für divine comedy kaufen?

in den tagen davor j. besucht, auf einer demo für die geiseln gewesen, viel gut gegessen, das v&a storehouse besucht, nicht genug london gesehen, überhaupt nicht genug gesehen. warm war es oft. m. kam besuchen. wie immer in solchen zeiten viel paralleles leben ausgedacht. schlecht geschlafen, viel merkwürdig geträumt. die autistinnen weitergelesen, zu viel wiedererkannt und damit zu viel unsicherheit und zu viel nachdenken ausgelöst, also noch mehr als sonst. permanent begleitet mit der frage, ob und weil ja wie sehr die anderen meine anwesenheit quält. mich nicht frei gefühlt. nicht gewusst, wo ich hinsoll und warum ich nie irgendwo hingehöre. der beste moment war der, als wir bei der demo ankamen und ich weinen musste, weil ich überwältigt war von der zahl und der art der menschen und dem gefühl, nicht allein zu sein. und als dann eine kleine ältere frau zu mir kam um zu fragen, ob ich okay bin und weil ich nicht anworten sondern nur noch ein bisschen mehr weinen konnte, sagte: wem dem hier? ich weiß genau, wie es dir geht.

seit dem 30. juli:

hamas bricht alle verhandlungen zur freilassung der geiseln ab. slovenia hat als erstes land in europa alle waffenexporte nach israel verboten. der jüdischen LGBTQ+ -gruppe Ga’ava wurde die teilnahme an der pride in montreal verweigert. Efrat Katz, die lebenspartnerin von Gadi Moses, die bei dem versuch der terroristen am 7.10. sie zu entführen, starb, konnte auf dem friedhof von Nir Oz begraben werden. die niederlande frieren immobilienvermögen von sara nethanjahu ein, vorwurf ist ihre direkte rolle bei der finanzierung des “genozids” ins gaza. die taz veröffentlicht ein interview mit dem hamas-sprecher walid kilani. einer delegation der IDF, die in auschwitz-birkenau am gedenkprogramm “zeugen in uniform” teilnehmen möchte, wird von der polizei der zugang verweigert, weil die soldat:innen israelische fahnen dabei haben. Liri Albag spricht/schreibt auf instagram über die schmerzen nach dem anblick der videos von Rom Braslevski und Evyatar David, über das gebrochensein, auch wenn sie nach außen stark aussieht. viele überlebende sprechen/schreiben darüber, was diese bilder mit ihnen machen. nichts hat sich geändert, nur die verzweiflung wird immer größer, schrieb s. mir heute. macron setzt die geiseln mit den palästinensischen häftlingen in israels gefängnissen gleich. in athen werden israelis verfolgt und an den fassaden wiederholt zur jagd auf israelis aufgerufen. der name “yahya” erfährt immer größere beliebtheit unter den eltern von neugeborenen in großbritannien. in leipzig nennen eltern ihren sohn “yahya sinwar”. das mahnmal zur erinnerung an die deportationen auf der putlitzbrücke in berlin-moabit wird beschädigt. jüdische passagier:innen eines iberia fluges von buenos aires nach madrid finden “free palestine” inschriften auf den verpackungen ihrer koscheren mahlzeiten. aiman mayzek, der zwischen 2010 und 2024 dem zentralrat der muslime in deutschland vorstand, postet ein bild mit einem stolperstein, dessen inschrift “gaza / genocide / 2025” ist. in der hessischen stadt homburg-gonzenheim wird ein 39jähriger rabbiner in einem supermarkt beleidigt und angegriffen. er war in begleitung seiner kinder. die internationale organisation der falkenbewegung schließt Hashomer Hatzair und HaNoar HaOved VeHaLomed aus. das rote kreuz hat sich nach der veröffentlichung der videos von Rom Braslevski und Evyatar David entschlossen, öffentlich besorgnis zu äußern und druck für eine versorgung der geiseln mit lebensmitteln und medikamenten auszuüben. bei einer demonstration für die freilassung der geiseln in israel, attakiert die polizei den vater von Guy Iluz. die spore initiative in berlin kündigt für das erste septemberwochenende ein “familienfest für gaza und seine kinder” an, eine dazu abgebildete landkarte zeigt in den grenzen israels / des westjordanlandes / gazas allein eine melone, damit die auslöschung israels. (bisher gab es keine proteste dagegen). Shir Sigal, die mit ihrer hochzeit so lange wartete, bis ihre eltern Keith und Aviva aus der gefangenschaft der hamas in gaza befreit sind, hat geheiratet. in montreal wird ein jüdischer mann, der in begleitung seiner kinder ist, auf offener straße körperlich angegriffen. die holocaust-überlebende Olga Weisberg aus rehovot stirbt an den verletzungen durch eine rakete aus dem iran. in einem vorort von paris wird ein jüdischer mann, der eine kippa trägt, mehrfach beleidigt und geschlagen. die ard interviewt meron mendel und vergleicht dabei die geplante aufnahme palästinensischer kinder in deutschland mit dem verstecken von anne frank, ohne das mendel wiederspricht oder dies kommentiert. frankreich hat aufgehört, arbeitsvisa für security-angestellte von elal zu verlängern. das bodenpersonal von bruessels airlines fordert, dass die verbindung nach israel nicht wieder wie geplant aufgenommen wird. der französische gepäckabfertigungsfirma alyzia erklärt den vollstädingigen boycott israelischer unternehmen. die fraktion der linken macht eine kleine anfrage zum rechtlichen rahmen und zur förderung des zentralrats der juden. die mutter und die schwester Bipin Joshi sind aus nepal zum ersten mal nach israel gekommen, um sich für seine freilassung einzusetzen. jüdische LTBGQ+ gruppen dürfen doch an der pride in montreal teilnehmen, werden aber beschimpft und angriffen und mit ballons beworfen, die mit urin befüllt sind. die linke neukölln veranstaltet gemeinsam mit pro-pälestina-gruppen ein soli-fest. das filmfest in toronto unterbindet die vorführung der dokumentation the road between us. the ultimate rescue, weil die produzenten keine urheberrechtserklärungen für die videos der hamas vorweisen können (kein scherz!). in griechenland begleiten pro-palestine-aktivist:innen weiterhin mit protesten die route des israelischen kreuzfahrtschiffes crown iris. in guatemala-stadt sprühten pro-palästinensische aktivist:innen “Gaza Viva” an die wände des holocaust-museums und verklebten zudem rund achtzehn plakate. Meny Godard, dessen leiche nach wie vor noch in der gewalt der palästinenser ist, wäre vorgestern 75 ahre alt geworden. frankreich, großbritannien, kanada stellen die anerkennung palästinas in aussicht. friedrich merz stoppt waffenlieferungen nach israel. in venedig wird ein jüdisches paar angegriffen. unter anderem lassen sie einen hund auf den mann los, dessen handy verhindert, dass er direkt gebissen wird. seine frau ist schwanger. Jimmy Pacheco von den philipinen, der die geiselnahme durch die hamas überlebte, wurde vater. die tochter bekam den namen Israela. 47 tourist:innen sitzen in bosnien fest, weil hotelangestellte ihre pässe weggeschmissen haben. jemand schrieb mir, dass er einem pro-palestine-jugendlichen ein free gaza from hamas gegen ein free israel von bibi entlockt habe, so als wäre das ganze ein fucking null-summen-spiel.

671ter oktober, nachts

heute auf dem boden eines schönen hauses in st. albans gelegen und geweint. geweint geweint geweint. jemand hat mich vor ein paar tagen gefragt, warum ich keine bilder mache und schicke, und da ist mir aufgefallen, dass ich das nicht kann, nicht will, und überhaupt, mir diese idee bisher gar nicht gekommen ist. der schmerz ist so groß, die angst ist so groß, die verzweiflung ist so groß. ich kann gar nicht mehr denken in all dem. ich sehe meine umgebung, die schöne stadt, den park, die häuser, das wembley stadion, aber es bedeutet nichts. es ist weit weg und nah und nichts davon löst tatsächlich etwas aus. die videos begleiten mich. der schmerz begleitet mich. die angst begleitet mich. die verzweiflung begleitet mich. und neben dem schreien von Tal Kuperstein hat sich jetzt das weinen von Rom Braslavski in meinem körper eingegraben. da wo schon so viele momente sind, wo die erinnerung an den morgen ist, als wir erfahren haben, dass Carmel Gat, Eden Yerushalmi, Hersh Goldberg-Polin, Alexander Lobanov, Almog Sarusi und Ori Danino ermordet wurden und an den morgen, als die Särge von Ariel, Kfir und Shiri Bibas an mir vorbeifuhren und an den augenblick, als e. und ich im fernsehen zum ersten mal Ohad Ben Ami, Or Levy und Eli Scharabi sehen konnten, da wo die traurigkeit von Arbel Yehud wohnt, wo immer die gesichter von Hanan Yablonka, Keith Siegel, Gali und Ziv Berman, Inbar Haiman, Iair und Eitan Horn, Matan Angrest zu finden sind, das haus von Itzhak Elgarat, wo der schrecken des tages selbst sich festgesetzt hat. und jetzt schreibe ich das, und ich dachte, ich schreibe nur was, aber jetzt ist es alles so viel, dass ich dem nicht gerecht werden kann. es sind so viele menschen, so viele geschichten, so viele erinnerungen, so viele schmerzen, ängste, verzweiflungen. und das schreien von Tal Kuperstein und das weinen von Rom Braslavski.

wir sind so allein. ich bin so allein. auch davon gibt es immer neue varianten. nur zwei menschen haben sich nach den videos von Evyatar David und Rom Braslavski gemeldet, um zu sagen, dass sie wissen, dass es mir schlecht geht. nur zwei. es gibt nicht einmal mehr einen raum ausserhalb des eigenen, darüber zu sprechen, darüber zu weinen, angst zu haben, schmerzen, verzweifelt zu sein, nicht denken zu können.

671 tage und ich kann nicht aufhören zu wissen, wie nahe wir der 700 schon sind.