Kategorie: Uncategorized

20231225

ich weigere mich von berufs- und verstandswegen, etwas zu sagen wie, dass ein ort ‘traumatisiert’ ist oder dass man die an ihm begangenen verbrechen ‘spüren’ kann, ich weiß, um das ‘gepäck’ (ruth klüger), das man mitbringen muss, um orte zu sehen und in ihrer geschichte zu verstehen, ich weiß, wie orte erinnerungen bewahren und ich weiß, wie erinnerungen in ihnen eingelagert; wie orte hergestellt werden, ich weiß, wie wichtig orte für die erinnerung, für ein erinnern und für das erzählen einer geschichte sind. ich habe jahre meines lebens damit verbracht, darüber nachzudenken, zu schreiben und zu sprechen. und seit dem nachmittag denke (trotzdem), dass ich einen so fragilen, zerbrechlichen, empfindlichen, instabilen, zarten ort besucht habe, einen ort, der so gebrochen ist, dass es sich unter meiner haut eingenistet hat und dass er mich mit einer kraft überrollt hat, die das gegenteil seiner fragilität ist. ich weiß wie es (nicht in einem guten sinn) ist allein zu sein und wusste bisher nicht, dass es einen ort gibt, der mich so einsam macht, dass ich mir für mehr als einen moment nicht vorstellen kann, diese/eine distanz zu anderen menschenauch selbst im einzelfall je wieder zu überwinden. ich denke, dass die luft anders war, die geräusche nur gedämpft, die menschen sich lautlos bewegten und lautlos sprachen, die an- und abfahrenden autos garantiert über dem boden schwebten. wirklich laut nur die angriffe der idf auf gaza waren, die eine kulisse im hintergrund bildeten.

davor waren wir avocados ernten auf einem feld bei yesha, so nahe an gaza, dass wir von einem größeren weg zwischen den plantagen bis nach khan yunes sehen können. mir fehlt das militärische wissen, um zu beschreiben, was wir alles an armee-geräuschen hören, aber es ist viel und häufig und nach einer weile hört man die unterschiede.

auf dem rückweg halten wir nicht nur auf dem gelände des supernova festivals bei reʿim an, sondern wir fahren vorbei an kibbuz beʾeri und nir oz und an dem platz, an dem all die autos der (ermordeten) festivalbesucher:innen aufbewahrt werden.

die frau, die uns zu der ernte mitgenommen hat, erzählt mir in einer pause, dass sie vor einigen jahren mal bei einer friedensdemo an der grenze zu gaza war und dass sie drachen steigen ließen für avera mengistu, der seit september 2014 in der gewalt von hamas ist und für oron shaul und hadar goldin, zwei getötete israelische soldaten, deren leichen die terrororganisation nach wie vor nicht an die familien übergeben will. auf der anderen seite seien nur hass gewesen, rauch, menschen mit molotowcocktails, die ihre kinder vorschickten, steine zu werfen. trotzdem habe sie erst jetzt mit dem angriff vom 7. oktober verstanden, dass eine zwei-staaten-lösung nicht möglich ist, weil es zu vielen auf der anderen seite nur darum geht, juden zu töten und dass isreal verschwindet. ich habe ehrlich gesagt noch nie verstanden, auf welcher realität diese idee der zwei-staaten-lösung in der gegenwart eigentlich beruht und hatte immer den verdacht, dass sie sehr viel mit realitätsverweigerung und wunschdenken zu tun hat, damit, dass menschen gern eine lösung vorweisen wollen, egal wie idiotisch sie ist. beim rumgoogeln für diese kleinen text bin ich auf ein “statemant” der heinrich-boell-stiftung vom 15. november 2023 gestoßen, dessen überschrift lautet “Die Zwei-Staaten-Lösung darf nicht aus dem Blick geraten”. was für ein geschwätz, denke ich, was für ein geschwätz. die gleiche heinrich-boell-stiftung gab vor einer woche im übrigen masha gessen nocheinmal raum und öffentlichkeit, ihre gleichsetzung von gaza mit den gettos, welche die deutschen ab 1939 für die juden:jüdinnen in osteuropa einrichteten, zu wiederholen.

20231223

es hat nur seit dem beginn meiner ankunft in der stadt gebraucht, endlich eine möglichkeit zu bekommen, bei #bringthemhome zu volontieren und tapfer morgens aufzustehen, um festzustellen, dass aufgrund regen und unwetter überhaupt nichts passiert und ich wieder nach hause gehen kann. sehr schlechte laune und sehr viele innere debatten, mich nicht total überflüssig zu fühlen. zur belohnung in einem cafe gearbeitet, das nicht zu meinen liebsten gehört.

irritierend viel energie, an meinen neuen forschungsantrag zu schreiben. vielleicht sogar ein bisschen aufgeregt deshalb, besonders nachdem ich mit ed. länger darüber gesprochen habe und sie begeistert eingestiegen ist. einen überblick zur zeit seit 1990 zusammengestellt und wieder festgestellt, wie viele konzepte und vorgehensweisen es neben dem offensichtlichen gibt.

abends wieder ballett, dieses mal “Kamea Dance Company -Wild Awake” und mit yo. und om. die ich nun offensichtlich für dieses ganze israeli dance -thema begeistert habe. anschließend wein für mich und tee für sie und gespräche zu raketen und demonstrationen und geiseln.

lange keine zigarette geraucht.

bevor ich hierher geflogen bin, dachte ich, es würde so emotional anstrengend für mich sein, wie es im sommer 2014 war und war ein bisschen nervös deshalb, auch weil ich angst hatte, ich würde mich mit allem zu allein fühlen und zu überladen. aber so ist es jetzt gar nicht. nicht nur, dass ich mich verbunden sehe und einfach so wieder mein leben hier habe und einen erschreckend banalen alltag, es fehlen auch all die zweifel in meinem kopf, die ich im frühjahr hatte bzw. schon vorher, seitdem die geschichte mit a. endete und ich dachte, die stadt gehört so sehr ihm, dass ich keinen platz hier haben kann. heute hat er meine wahrnehmung und meine wege durch die stadt zum ersten mal wieder bestimmt, aber mehr als eine starke melancholie hat es bisher nicht (mehr) bedeutet,rede ich mir offensichtlich erfolgreich ein.

20231221

weihnachten hat für mich schon so lange ich mich erinnern kann etwas beklemmendes, feindliches. einige jahre habe ich versucht, aktiv dagegen anzugehen und wir haben in der wg ein essen veranstaltet und all die menschen eingeladen, die irgendwie auch gestrandet und mehr oder weniger verloren waren. wir haben sehr aufwendig essen gekocht, uns gestritten und am ende waren alle betrunken. ich habe es geliebt. heute abend hat mich der post von frau fragmente daran erinnert, dass menschen diese zeit als zeit und länger als einen abend wirklich geniessen können. und ich dachte, wie schön das ist und wie fremd für mich. und zugleich ist das alles gerade sowieso so weit weg, dass ich ein bisschen irritiert beim lesen ihres textes war. es erschien mir verrückt, dass das auch eine realität sein kann.

ed. hat mich heute in tel aviv besucht. wir sind mit der neu eröffneten light rail erst nach petah tikva gefahren, dann von petah tikva nach bat yam. zwischen beiden endstationen sind es 51 minuten. wenn man in tel aviv einsteigt, dann sind das wahnsinnig beindruckende, futuristische, großzügige stationen im untergrund und alles ist ein bisschen aufregend. wenn man an den jeweiligen endstationen aussteigt, ist man im irgendwo mit schmalen bahnsteigen, zwischen befahrenen straßen und kann sich nicht einmal einen kaffee kaufen.

kurz nach 1 (!!) gibt es alarm. wir hatten gerade die grenze zwischen yaffa und bat yam überfahren, die straßenbahn hält, die menschen laufen zu sheltern oder um sich anderweitig in sicherheit zu bringen. es ist wahnsinnig laut und wir können den waggon nicht verlassen. weil ed. ein bisschen zu alt ist, um überhaupt zu rennen und weil ed. auch zu cool ist, um beunruhigt zu sein. also bleiben wir sitzen, entfernen uns nur etwas von den scheiben, was vermutlich keinen unterschied machen würden, wenn es einen treffer gibt. aber irgendetwas will man vermutlich einfach gemacht haben. ich siehe wie der iron dome die raketen abwehrt. dann ist es still, zeit vergeht, die meisten kommen zurück und wir fahren weiter.

wir sprechen nicht noch einmal darüber und werden in den nächsten stunden immer wieder sagen, was für einen phantastisch schönen tag wir hatten. nur ich bin nach unserem essen in yaffa plötzlich todmüde.

es scheint nicht gut zu laufen mit verhandlungen um weitere freilassungen von geiseln, die verzweiflung wird immer größer. man denkt immer, dass sie doch schon so groß und schmerzhaft ist, und dann wird sie immer noch größer. jeden tag. und es gibt immer weniger worte dafür.

20231220

als ich im frühjahr in tel aviv gewohnt habe, kurz nach dem anschlag, bei dem ein autofahrer in der nähe des strandes in eine gruppe von menschen fuhr und dabei einen italienischen touristen tötete, schrieb an. mir ‘bist du in jerusalem’ in einer nachricht. und meine antwort war ‘fuck, gab es einen anschlag?’. gab es nicht, sie wollte nur wissen, ob ich in jerusalem bin. daran muss ich immer wieder denken, wenn ich versuche jemandem zu erzählen, wie es sich anfühlen kann, hier zu sein.

mitarbeiter:innen-meeting gehabt, hummus gegessen, zu beit ariela zum arbeiten gegangen, am antrag geschrieben. beim rausgehen über den platz für die geiseln gelaufen und von einem der psychologischen betreuer:innen angesprochen worden. wie immer keine lust gehabt, über mein sosein in der welt zu sprechen. noch weniger als sonst und schon gar nicht mit einem fremden und nach einem protokoll vorgegebener fragen (und ohne schnaps). aber zum ersten mal fragt mich jemand, wie er für mich eigentlich war, dieser ‘7. oktober und das bringt mich dann doch kurz durcheinander.

zu suzanne dellal gegangen, um “Fresco dance company – Yoram Karmi | TATRY By Mor Shani” zu sehen. danach vor glück und intensität ein bisschen high gewesen.

die straßen sind immer so leer und es ist immer ein bisschen verführerisch, das erst einmal schön zu finden.

20231219

zum arbeiten ins cafe um die ecke meiner wohnung gegangen. tisch im inneren bekommen, salat bestellt, kaffee, rezension zu einem buch über die zerstörung von synagogen nach 1945 in deutschland angefangen, alarm im telefon angezeigt, gedacht: ‘ach, süd tel aviv und yaffa’. kurz darauf lese ich ‘central tel aviv’, alle stehen auf, die meisten sehen sich ratlos um, einer der mitarbeiter schickt uns auf die andere straßenseite in einen hauseingang. wir verteilen uns im treppenhaus und in einem kleinen shelter. mir fallen die schönen fotografien der white city auf, die an den wänden hängen. ich sehe auf die uhr, es ist drei minuten nach 1. mich an om. feststellung zu den raketen zur vollen und zur halbenn stunde erinnert, vielleicht gelächelt. viel mehr gibt es nicht zu sehen, zu denken oder zu tun. nach ein paar minuten verlassen wir das haus, gehen auf die andere straßenseite, setzen uns wieder auf unsere stühle, ich schreibe in den nächsten stunden meine rezension zu ende (mehr oder weniger).

denke, wie sehr ich es liebe, dass man in tel aviv immer selbstverständlich in cafes arbeiten darf.

gut, dass ich seit einigen tagen eine app habe, in der man jeweils nur die orte einstellen kann, bei denen sie raketenalarm anzeigen soll.

abends nach yaffa zu einer kleinen kungebung gefahren, die sich gegen die leiterin vom red cross in der region, alessandra menegon, richtet. bis heute hat das rote kreuz die betreuung der geiseln nicht übernommen, ihnen keine der dringend benötigten medikamente gebracht etc. die namen der geiseln werden verlesen. es sind vor allem frauen da, die protestieren und mir fällt auf, dass mir seit 74 tagen die welt vor allem von männern erklärt wird.

ich laufe zurück nach tel aviv. auf dem weg, am clocktower in yaffa, komme ich an einer weihnachtsinstallation vorbei. ‘ach das ist ja auch noch’, gedacht.

erst hamas, abends der islamische jihad veröffentlichen videos mit geiseln, ältere menschen. die videos werden im fernsehen nicht gezeigt, aber allein die stills bringen mich (wieder) zum weinen. es soll neue verhandlungen geben.

20231218

“jetzt glaube ich, dass es das einzige land ist, in dem ich leben kann. ich habe immer nach möglichkeiten gesucht, im ausland zu arbeiten, ich habe die regierung verurteilt und gegen sie demonstriert, ich weiß, wie wir die palästinenser behandeln. trotzdem. das hat alles verändert. jetzt erst bedeutet es wirklich etwas. es ist als wäre ich erst jetzt teil davon. als habe ich es erst jetzt verstanden, was es bedeutet, hier zu sein, dass es dieses land gibt. […] du hast mich immer gewarnt vor dem antisemitismus überall, dem hass gegen juden und gegen israel, hast von den situationen überall gesprochen. ich habe es nie nicht geglaubt. aber jetzt verstehe ich es wirklich. alles ist anders.”

20231217

michael rapaport ist ein us-amerikanischer schauspieler. ich bin nicht gut in solchen dingen, erst als ich ihn gegooglet habe, wusste ich, dass ich ihn “aus dem fernsehen” kenne. vor ein paar wochen habe ich ein interview mit ihm gesehen, auf i24news. da ging es unter anderem darum, dass er geld an die idf spendet für hasskommentare, die leute unter seinen posts hinterlassen. ich bin ihm dann auf instagram gefolgt. bevor ich dies tun konnte, hat instagram mich gewarnt und gefragt, ob ich das wirklich möchte. ich gebe zu, es hat mich kurz irritiert. seit diesem tag ist rapaport zu einer relevanten konstante in meinem leben geworden. seine posts sind in der regel wütende, entsetzte, laute, unausgewogene rants, die sich gegen die hamas richten, gegen das rote kreuz, gegen antisemit:innen im allgemeinen und im besonderen. ich wäre gern so. er ist jedenfalls auch gerade in israel und hat gestern auf der kundgebung für die geiseln gesprochen.

den tag mit mi. verbracht, am meer gewesen und äthiopisch essen, im lieblings-äthiopisch-restaurant. über architektur gesprochen und über den krieg, über die geiseln und über tel aviv. über die wohnung, in der wir eine kleine weile mal zusammengewohnt haben und das haus, in dem sie ist und das jetzt abgerissen wird.

das dokument für ein neues projekt auf meinem rechner schon mal geöffnet. festgestellt, dass da schon wieder mehr drin steht, als ich erinnere, geschrieben zu haben. ich muss das nachts ohne aufzuwachen machen. anders kann ich es nicht erklären.

nachdem ich mich von der wohnungssuche in der schönst-möglichen wohnung langsam erholt habe, habe ich nun angefangen, nach einem ort zum volontieren zu suchen. leider sehe ich mich bisher noch nicht unbedingt in der feldarbeit.

20231216

die veröffentlichung der letzten staffel von the crown als entschuldigung genutzt, im bett zu bleiben. abends mit yo. and om. zur kundgebung für die geiseln gegangen. om. sagt, dass hamas raketen nur zur vollen und manchmal zur halben stunde schickt. danach alkohol.

gelesen, dass die 27jährige Inbar Haiman von hamas in gefangenschaft ermordet wurde.

20231215

ich weiß nicht, wie über den tag schreiben. morgens von den drei toten geiseln gelesen, die von der IDF gefunden worden waren – Elia Toledano, Nik Beizer, SGT Ron Sherman – und von den beiden soldaten – Oz Shmuel Ardi und Shay Uriel Pizem – die in gaza gefallen sind, abends dann die nachricht von drei weiteren toten geiseln, die von der IDF versehentlich getötet wurden, weil die soldaten sie für hamas-terroristen hielten: Yotam Haim und Alon Lulu Shamriz vom Kibbutz Kfar Aza und Samer Talalka, entführt aus dem Kibbutz Nir Am. ich habe gar keine worte dafür und hatte abends nicht einmal die kraft, zu der demonstration zu gehen.

den tag selbst in sehr typischer pre-shabbat-tel-aviv-weise verbracht: morgendlicher kaffee an öffentlichen orten, zum markt gehen, einkaufen, mich ein bisschen treiben lassen. alles immer mit dem gedanken, dass in den vergangenen wochen der shabbat-beginn von hamas immer genutzt wurde, raketen zu schicken, oft auch und besonders in richtung tel aviv. meine wege immer gescannt nach sheltern und nach anderen möglichkeiten, mich notfalls zu schützen. auch das hat mich müde gemacht. die raketen sollten nach einbruch der dunkelheit dann in richtig jerusalem gehen.