20250916, später abend

ich habe zu viele gefühle, zu viele eindrücke zum schreiben. aber ich denke, wenn ich es nicht jetzt noch mache, gibt es morgen schon zu viele neue gefühle und eindrücke, und am ende ist alles ein wabern.

gestern nacht nicht einschlafen gekonnt, aus angst, dass wir am nächsten morgen schlimme nachrichten bekommen. und ich fühle mich dem nicht gewachsen. seit gestern abend gibt es eine grossoffensive in gaza city und man weiß, dass hamas geiseln als schutzschilde aus den tunnel geholt hat. was für ängste die eltern, frauen, kinder, familien, freund:innen haben müssen, was für ängste. nachts kam dann ein aufruf nach jerusalem zu kommen, aber da war der letzte zug gerade abgefahren und ich dachte zum ersten mal, mist, dass ich kein auto habe. und heute gab es zu viele dinge. morgen dann, ich versuche.

wir hören und fühlen manchmal die detonationen und wir haben uns nach den ersten sofort daran gewöhnt.

tage sind schon wieder ewigkeiten.

abends in suzanne dellal ein stück der Kamea Dance Company gesehen. eines der drei letzten tickets gekauft und erleichtert gewesen und dann in der vorstellung bleiben ein drittel der plätze leer. es ist so leise. dass ich nicht dachte, dass israelis so leise sein können. in der straße davor gibt es seit mindestens mehr als einem jahr den großen bring them home schriftzug an einem bauzaun. gestern sehe ich dann, dass das bring fast vollständig verschwunden ist und ich denke, wie strange und dann auch, dass es offensichtlich wenig versuche gibt, neue kampagnen und zeichen im öffentlichen raum zu platzieren. so wie das banner sehen viele andere plakate, graffiti, bilder, schleifen, transparente auch aus. und es ergibt sich eine merkwürdige diskrepanz zur tatsächlichkeit, in der wir sind. und ich frage mich dann, ob es vielleicht dafür auch einfach keine kraft mehr gibt. die bilder verblassen, die zeichen verblassen. obwohl es noch lange nicht an der zeit dafür ist. obwohl wir noch mittendrin sind. am habima eine durchlaufende videoinstallation gefilmt, die noch geiseln zeigt, die nicht mehr in gaza sind, Edan Alexander zum beispiel, Judy Weinstein and Gad Haggai. wie komisch das ist, dass niemand sich mal die mühe macht und zeit nimmt, das zu ändern. am samstag abend bemerkte ich, dass es viel selbstverständlicher und viel umfangreicher passiert, dass auf den bildschirmen gewaltbilder des 7. oktobers gezeigt werden.

bei gestrigen tag und nach lunch im fast leeren yom tov und nach abgabe der kommentierten druckfahnen nochmal zur kreuzung pinsker / allenby / ben yehuda gegangen. bei tageslicht wird es nicht einfacher, die zerstörten häuser zu sehen. und erst jetzt verstehe ich, wie groß die betroffene fläche ist, wie viel mehr als nur die zur straßen ausgerichteten fassaden. niemand scheint die straßen zu nutzen ausser mir und drei amerikanischen tourist:innen.

im bus setzt sich eine alte frau gegenüber, sagt etwas auf hebräisch, vermutlich zur hitze und schwere des moments. ich antworte, dass ich kaum hebräisch spreche, sie daraufhin in gebrochenem englisch, wie schlimm alles sei und mit fingerzeig auf meine kette, dass sie jeden tag um die geiseln weine. ich auch, nicke ich und als sie mir ihre hand auf den arm legt, weinen wir beiden einen moment. danach mit lila im bucke, in dem nur noch fünf andere menschen saßen und in dem sich niemand die mühe gemacht hatte, eine veränderte speisekarte noch ins englische zu übersetzen. danach gesehen, dass das Nechama Vehezi geschlossen ist, also so richtig, nicht einmal mehr möbel und die kneipe/bar nebenan auch, danach auf dem habima platz gesessen und jmd. sagt am telefon, er will derjenige sein, der mich fragt, wie es mir geht.

jetzt fällt mir noch ein, dass ich letzten freitag zum ersten mal vor shabbat den shuk besucht habe und mich ohne gedränge bewegen konnte.

und jetzt merke ich schon, dass ich heute wieder nicht einschlafen werde, dass sich das gefühl der erwartung von etwas, dass bald realität ist, wie blei unter meine haut zieht.

ich habe zu viele gefühle, zu viele eindrücke zum schreiben. aber ich denke, wenn ich es nicht jetzt noch mache, gibt es morgen schon zu viele neue gefühle und eindrücke, und am ende ist alles ein wabern.