heute sind es 52 wochen. 364 tage. (vor-)gestern wäre Hersh Goldberg-Polin 24 jahre alt geworden.
ein jahr später hat etwas zu ende zu gehen. eine zeit der trauer, die einem zugestanden wird. niemand sagt, wie jemand wie ich mich fühlen soll oder darf. weder innerhalb des ersten jahres noch danach. ich habe irgendwie gelernt, außerhalb israels sachen zu sagen wie: ‘ja, seit dem 7. oktober kann ich das nicht mehr so gut machen, bin ich müder, unkonzentrierter, trauriger whatever’ und ich sage das auf eine weise, die niemanden dazu animiert, mich zu fragen, wie ich das meine, was es für mich bedeutet oder ob man irgendetwas tun könne. vielleicht ist es aber auch nicht die eine weise weil es sowieso niemand wissen oder etwas tun will. so oder so. jahrestage machen nicht nur was wegen erinnerung sondern ordnen auch die zeiten und definieren neue erwartungen.
mi. will nach dem abendessen am donnerstag wissen, ob ich froh bin, gerade jetzt hier zu sein und ich frage sie, ob es ihr komisch vorkäme, wenn ich ‘ja’ sage. sie verneint ohne zögern.
ich bin gern an feiertagen hier. ich lerne immer etwas und irgendwie entsteht immer auch neuer sinn, neue ordnung. mehr verbindung. oder einfach nur eine andere. ich mag diese leeren tage und nächte und räume. dass die menschen, die man trifft, ‘shana tova’ wünschen oder einen guten shabbat. ich mag auch das gefühl, dass am zweiten feiertag die menschen hier in tel aviv schon keine lust mehr haben auf geschlossene orte und man wieder aus und essen und trinken gehen kann. noch verhaltener, nicht überall. aber doch mit der möglichkeit zu entscheiden.
in tel aviv können keine großen proteste stattfinden wegen der restrictions. in jerusalem soll es eine demo geben heute abend. kleinere proteste an straßen und kreuzungen sollen ebenfalls stattfinden. gestern hat das hostage forum ein video zu den 35 geiseln veröffentlicht, von denen man weiß, dass sie tot sind und deren leichen nach wie vor von hamas behalten werden und die so nicht in israel bestattet werden konnten. die regierung lässt verlauten, in den nächsten zwei bis drei wochen werde es mit sicherheit keinen deal geben. es soll zudem seit mindestens 14 tagen keine treffen mehr zwischen ihr und angehörigen der geiseln gegeben haben. ich vermute, die veranstaltung am 7.oktober im yarkon park findet nicht statt. es ist nicht so einfach zu verstehen, wo wann etwas sein wird. und ob überhaupt. für berlin habe ich einen besseren überblick und dort und in mehreren anderen deutschen städten soll/en es demonstrationen für hamas und palästina geben und die ereignisse des 7.oktobers als widerstand gefeiert werden. eine linke feministische demo in kreuzberg am montag möchte gern, dass auf alle nationalfahnen verzichtet wird. es gibt immer wieder warnungen auf den aufrufen, nicht allein zu kommen, keine offensichtlichen symbole zu tragen, vorsichtig zu sein. die polizei bereitet sich zumindest in berlin auf ausschreitungen / krawalle vor. es gibt politisches erinnerungsgeplapper und der tagesspiegel stellt die toten von gaza vor und veröffentlicht alle stattfindenden demos und kundgebungen in einem artikel, die einen sagen eben so und die anderen so. viel geht es auch um frieden und gerechtigkeit auf beiden seiten. wtf denke ich vor allem und verstehe wirklich überhaupt nicht, dass menschen in deutschland mich noch fragen, ob ich nicht eher zurückkommen möchte. und überhaupt: ich habe zunehmend anstrengende gespräche, ich bin zunehmend enttäuscht, ratlos, überfordert. da mir die kraft fehlt, als projektionsfläche für die ängste und gedanken anderer zu dienen, aber auch, mich zu streiten oder darauf zu bestehen, wie ich und ich hier vor ort etwas sehen, sammele ich zwischenmenschliche baustellen. und ich verstehe nicht, was genau ich mache, um es menschen zu verunmöglichen, ohne eigene agenda einfach mal nur dazusein. erstaunlich auch das bedürfnis von menschen, mich darüber zu belehren oder zu unterrichten, wie es ist, hier zu sein. und was ich nicht zuletzt noch sammele sind die erinnerungen an diejenigen, die nicht nachfragen. vielleicht wird diese zeit etwas kaputtmachen, mit dem ich nicht gerechnet habe.
ich bin gestern abend zum strand gegangen und nach yaffa und die gleise der lightrail entlang. ich mache das oft aber gestern irgendwie anders und auch, um mich von orten, erinnerungen, ereignissen nicht einschüchtern zu lassen. wobei ich andererseits nach wie vor vermeide nach südbrandenburg zu fahren. aber hier habe ich vielleicht weniger willen und bereitschaft, mir das selbstverständliche, irgendwo zu sein, wegnehmen zu lassen. bei facebook heute eine diskussion gelesen, dass man jetzt nicht nach yaffa gehen soll oder gehen kann. ich lese davon, dass einer der täter eine gelbe schleife für die geiseln getragen habe und dass niemand von den vielen, die sie vor ihrem anschlag sahen, sie in irgend einer weise verdächtig fand. ich weiß nicht, was solche feststellungen nützen sollen und wem. aber vielleicht ist das auch nur eine weitere variante in der erzählung von normalität, in die das unvorstellbare ereignis dann einbricht.
vor ein paar tagen wurde bekannt, dass es israel vor einigen wochen gelungen ist, in gaza die 21 jährige jesidin Fawzia Amin Sido zu befreien, die vor zehn jahren vom IS im irak entführt und verschleppt und dann von einem palästinenser gefangen gehalten worden war.
es gibt deutlich mehr alarm und immer wieder bis nach haifa. neue grenzen bilden sich. hier ist es vor allem das fast permanente dröhnen von flugzeugen. ich habe eine irrationale empfindlichkeit gegen aufkommende geräusche, besonders wenn ich sie nicht sofort einordnen kann. gestern vormittag stand ein mann auf einer straße hier in florentin und schrie auf arabisch. er hat sich nur über ein falsch parkendes moped aufgeregt, aber um ihn herum entstand etwas wie ein vakuum und niemand traute sich für ein paar sekunden die wie lange minuten waren, zu bewegen. und am abend davor, als es wenige minuten von mir entfernt einen unfall gab, ich schwör, ich dachte mein herz bleibt stehen.